1995. Die 19-jährige Betti geht zum ersten Mal allein auf
Reise. Ziel ist ihre Brieffreundin September Nowak, die in Monaco wie eine
Prinzessin lebt – kein Wunder, dass Betti aus ihrem Aschenputtel-Dasein in
der westfälischen Provinz flieht. Die Zugreise endet jedoch mit einem Schock.
September Nowak ist keine Ballerina mit Hochhaus und Yacht. Selbst ihr Name
ist ausgedacht. Ungepflegt, ohne Perspektive und jenseits jeglicher
moralischer Bedenken: So sieht die Brieffreundin in Wirklichkeit aus. Den
Rest des ersten Kapitels heult Betti sich die Augen aus dem Kopf und fasst
den Mut, das Beste aus dem Desaster zu machen. Sie lässt die falsche
September zurück, setzt sich an den Strand von Monaco und lässt das Leben auf
sich zu kommen.
Billige Delfine und die Frage nach der Authentizität
Viel hat man damit nicht über das Romandebüt von Markus Berges verraten. Die
Illusion der September Nowak ist keine große Wendung, sie ist eher der
Auslöser für diese Geschichte. Das Spannungsfeld zwischen Lüge und Wahrheit
brodelt ständig im Hintergrund. Bettis großes Abenteuer liest sich einerseits
wie ein ziemlich reales Ferienerlebnis in einer wirklichkeitsgetreuen Kulisse
– fast schon erschreckend, wie selbstverständlich kleine Einzelheiten wie
Songs im Musikfernsehen oder billige Delfin-Schlüsselanhänger als
Touristen-Abzocke eingebaut werden. Andererseits stehen Betti und der Leser
immer ein wenig neben der Realität. Die Heldin des Abenteuers steht
fortlaufend unter leichtem Schock – wegen des Verrats, wegen der unbekannten
Freiheit, die sie erlebt. Und nicht zuletzt wegen der unglaublichen Tatsache,
dass ihre Reise nicht einfach frontal gegen eine Mauer prallt und endet.
Vielleicht wird man da als Leser misstrauisch – kann man die Geschichte für
bare Münze nehmen? Oder ist alles wirklich nur Ein langer Brief an
September Nowak, verfasst von der Erzählstimme, die alles im kleinsten
Detail schildern kann und dann doch wieder auf Distanz geht?
Markus Berges - Szenischer Allrounder
Als Sänger und Texter der Band Erdmöbel (gerade
erschien das neue Album „Krokus“) hat Markus Berges sein Auge für die
Poesie des Alltags schon oft bewiesen. Seine Songs sind kleine Beobachtungen,
kleine Szenen, von denen man nicht einmal ahnt, dass man sie in einen Popsong
verwandeln kann. Man versteht, dass ihn das Angebot, einen Roman zu
schreiben, gereizt haben muss. Bettis Odyssee könnte wahrscheinlich auch als
Erdmöbel-Konzeptalbum vertont werden. Gleichzeitig direkt und ausufernd
beschwört seine Sprache Momente herauf, in denen sich das Hässliche in der
Existenz und die Schönheit im Häßlichen offenbaren. Wer will schon an das
musikalische Verbrechen „Don’t Want No Short Dick Man“ erinnert werden, und wer
fühlt nicht gleichzeitig ein wenig Zwangs-Nostalgie und Stolz, die Musik der
Neunziger überlebt zu haben?
Der Wunsch, mehr zu sein
Diese ungeschönte Kulisse wird zu einem stillen Lehrstück über Lüge und
Wahrheit. Betti lernt schnell, dass sie Fremden gegenüber eine erfundene
Person werden kann – eine neue September Nowak. Und wenn sie interessanter
ist, kann sie auch Interessanteres erleben – eine Fluchtmöglichkeit in die
Weiten der realen Welt. Allerdings sind die Menschen, die ihr begegnen, auch
in Unwahrheiten verstrickt. Die Frau, die nicht von ihrem Kerl loskommt, eine
alte Dame, die lebenslustig wie ein Star lebt, ein ganzer Saal, der in Hypnose
aufgeht – am natürlichsten wirken noch die Kinder, die unbedarft an der
Geschichte teilhaben. Sie kennen den Unterschied zwischen erträumtem und
realem Leben noch nicht. Bei ihnen wird noch Neues entdeckt, nicht nur
Verlorenes überdeckt.
Zum Schluss gewinnt die Realität wieder kurz die Oberhand und reißt das Ruder
der Geschichte rum. Das Ferienabenteuer könnte endlos weitergehen, aber
natürlich bricht es dann doch einfach ab. Alle Beteiligten könnten schlauer
aus der Sache herauskommen und dem Leser eine Erkenntnis ins Gesicht
schmettern. Das wahre Leben funktioniert aber nur selten so, und ohne Abspann
und Vorhang geht es einfach irgendwie weiter. Markus Berges hat schon gut
erkannt, dass die kleinen und die großen Momente den Menschen nur kaum wahrnehmbar
verändern. So lohnt es sich, nach ein paar Wochen wieder an den „langen Brief
an September Nowak“ zurückzudenken, und vielleicht auch noch nach ein paar
Jahren.
http://www.campus-web.de/10382/10406/10729/
|